Andreas Schlothauer

Die Diktatur der Freien Sexualität – Vom Ende einer Sekte
Aus AGPF AKTUELL I/92 vom 15.1.92
Otto Mühl und die AAO (Aktionsanalytische Organisation)

Die Gemeinschaft um den Künstler Otto Mühl (Wiener Aktionismus) hatte mehrere Namen: AA-Kommune, Mühl-Kommune, AAO, Friedrichshof-Gruppen. (Seit 1978 wurde ein gemeinsamer Name in der Öffentlichkeit vermieden, da der Zusammenhang zwischen den Stadtkommunen und dem Friedrichshof geleugnet wurde.) Der Mitgliederstand in allen Gruppen war nie höher als 600 Personen. Etwa 2.000 Männer und Frauen lebten zwischen 1971 und 1991 mehrere Monate in einer der Kommunen. Wahrscheinlich mehr als zehntausend Interessierte haben von 1974-1983 den Friedrichshof als Kursteilnehmer besucht. Die angenehmen Seiten des Kommunelebens schildere ich hier nicht, obwohl all die Jahre erst mit denselben verstehbar sind. Es wäre unmenschlich, wäre nicht auch in den Kommunen gelacht worden, hätte es keine Liebe, Zuneigung und Solidarität gegeben. Auch das Gefühl der Sicherheit und Stärke einer engen Gemeinschaft zu erleben, war eine große persönliche Bereicherung für die meisten KommunardInnen. Wer entsprechendes Interesse mitbrachte, profitierte von der Lebenserfahrung und Bildung einiger älterer KommunardInnen. Die vielen, unterschiedlichsten Charaktertypen konnten unter Umständen dazu beitragen die eigene Menschenkenntnis auszubilden. Vertreter von teilweise mehr als acht Nationen erzeugten einen Internationalismus, der sich auch nach dem Verlassen der Kommune positiv bemerkbar machen kann. Wer hat schon Freunde in Frankreich, Portugal, Holland, Norwegen, Schweden, Dänemark, Schweiz, USA und Österreich? Vieles von dem, was am Friedrichshof bzw. in den Stadtgruppen geschah, ist erst dadurch verständlich, daß sich die KommunardInnen als große Familie fühlten und auch so verhielten. Eine Lebensgemeinschaft mit 400 bis 600 Mitgliedern, die fast 20 Jahre existierte, ist alles andere als ein monolithisches Gebilde. Es bestanden räumliche, zeitliche und persönliche Unterschiede: das Leben am Friedrichshof bzw. ‚El Cabrito‘ oder in den Stadtkommunen war in grob einteilbaren Zeitabschnitten entsprechend dem individuellen Charakter verschieden (vgl. auch AGPF-AKTUELL III/89 v. 17.11.89).

1971 – 75: GRÜNDUNGSPHASE
In der ersten Hälfte der 70er Jahren entstand in Wien um den damals fast 50-jährigen Künstler Otto Mühl eine Kommune mit „freier Sexualität und Gemeinschaftseigentum“. Etwa 30 Wiener Twens bekannten sich zur Kommuneideologie und zum totalen Konsum- und Kulturverzicht, äußeres Zeichen war die „AA-Glatze“. Sie nannten sich, abgeleitet von der gemeinsam praktizierten Therapie („Aktionsanalyse“), „aktionsanalytische Kommune“ oder „AA- Kommune“. Mühl verbreitete eine sehr merkwürdige Weltrettungstheorie. Durch globale freie Sexualität sollte der bevorstehende Weltuntergang verhindert werden. Wer in die AA-Kommune eintrat, gehörte zur Elite. Gekämpft wurde gegen die „Kleinfamilie (KF)“ und die „sexuell verkrüppelnde Zweierbeziehung“. Alle persönlichen Probleme kamen aus der Kindheit, zur Bewältigung sollten Vater und Mutter ‚therapeutisch‘ gemordet und vergewaltigt werden. Ekel und Hass, Depressionen und Inzestwünsche mussten auf dem Weg zum „neuen Menschen überwunden und ausgelebt“ werden.

1975 – 78: AUFBRUCH UND AUSBREITUNG
Ab 1975 wurden Kommunekurse abgehalten, Ende 1976 existierten etwa 25 Kommunen in Deutschland, Frankreich, Skandinavien, Schweiz, Holland und Österreich mit knapp 500 Mitgliedern der links-alternativen Szene. Die lose assoziierten Kommunen wurden ab Januar 1977 durch, vom Friedrichshof entsandte, alle 3-4 Monate wechselnde GruppenleiterInnen ideologisch fest in die nunmehr sogenannte „Aktions-Analytische-Organisation (AAO)“ eingebunden. Otto Mühl sah die AAO auf dem Weg zur „Massenbewegung“, höchstes Ziel war die „WCO – die Welt-Kommune-Organisation“. Die Ordnung innerhalb der Kommunen wurde durch hierarchische Durchnummerierung – vom Ersten (Otto Mühl) bis zum Letzten – erzwungen. Maßstab für den Hierarchieplatz war das vage definierte „AA-Bewußtsein“.

1978 – 84: DEMOKRATISIERUNG EINER SEKTE?
Der wirtschaftliche Bankrott und die Kritik in den Medien waren die Auslöser, ab 1978 direktes öffentliches Auftreten zu vermeiden. Die Stadtgruppen erhielten mehr Autonomie, Privateigentum wurde wieder eingeführt, viele begannen zu studieren oder setzten die abgebrochene Ausbildung fort. Neue Mitglieder wurden kaum geworben. Die Autonomie der Stadtkommunen wurde ab 1981 zögernd eingeschränkt, Mühl wurde „alles zu demokratisch und liberal“. Gleichzeitig drängte Mühl wieder auf intensivere Anwerbung. Die verschleierten Rekrutierungsversuche neuer KommunardInnen provozierten erneute öffentliche Kritik 1982/83. Die Folge war, daß die Werbung neuer Mitglieder ab Mitte 1983 eingestellt wurde, die „Mühl-Kommune“ sollte sich durch die „Kinderproduktion“ auf natürlichem Wege fortpflanzen. Das Privateigentum wurde wieder zu Gemeinschaftseigentum. Die freie Berufs- und Ausbildungswahl war ab 1984 verboten. Alle Mitglieder der Stadtkommunen mussten in kommuneeigenen Firmen (Verkauf von Lebens- und Krankenversicherungen) arbeiten. Eine extrem geschlossene Gemeinschaft, ein totalitäres Machtsystem entstand.

1984 – 1990: VERIRRUNGEN IN EINER GESCHLOSSENEN GEMEINSCHAFT
Der Tagesablauf war genauestens geplant, wer zu den gemeinsamen Veranstaltungen nicht erschien, wurde „öffentlich angegangen“. Interne Kritiker zerbrachen entweder unter dem Psychoterror oder verließen die Kommune. Der Druck innerhalb der Gruppen durch das System der gegenseitigen Kontrolle – an dessen Spitze die jeweilige Gruppenleiterin thronte – war enorm. Das in den kommuneeigenen Firmen verdiente Geld floß auf irgendwelche „Sammelkonten“, die von der Führungselite um Otto Mühl („12er-Rat“) kontrolliert wurden. Etwa zweihundert hart arbeitende KommunardInnen, mit monatlichen Durchschnittseinkommen zwischen 10 und 100.000,- DM (Brutto) und Durchschnittsausgaben von ca. 800,- DM, verdienten unter scharf kontrolliertem Konsumverzicht, was Mühl und sein „12er-Rat“ bedenkenlos und verschwenderisch ausgaben. Die Beziehung zum Geld war in den Sphären des „größten Bewusstseins der Welt“ verloren gegangen. (Abgesehen von Haschisch, Alkohol, Rauchwaren, besserem Essen und Mühl’s verschwenderischen Materialverbrauch beim Malen wurde das Geld jedoch nicht für Luxusgüter verbraucht.) Wer am Friedrichshof (bzw. Gomera) in der Schreinerei, Schlosserei, Küche, Wäscherei, bei den Kindern etc. arbeitete, tat dies meist ohne Lohn, Altersvorsorge, Krankenversicherung, usw. Zustände wie an den Fürstenhöfen des 18. Jahrhunderts. Mühl und seine Führungsdamen leisteten die aufreibende „Bewusstseinsarbeit“ und setzten die Mühl’sche Pädagogik durch. Jede wichtige und viele unwichtige Entscheidungen fällte Mühl selbst. Es war ihm gelungen, die Aufgabenbereiche so aufzuteilen, dass sich immer mehrere Personen gegenseitig kontrollierten. So erfuhr Mühl fast alles, er konnte sich auf das Intrigenspiel verlassen. Mit den Verhältnissen hatten sich auch die Vorbilder gewandelt. Der ehemals anarchistische Künstler bevorzugte nun die feudalistische Herrschaft mit Erbfolge.

Das auf „Verkauf“ standardisierte Berufsbild in den kommuneeigenen Firmen ermöglichte totalitären Methoden. Die seit Jahren stabilen Gruppenbeziehungen wurden als „Packelei und Zweierbeziehungsschleim aufgedeckt“, die KommunardInnen nach dem Gutdünken des 12er-Rates verschickt, zahlreiche Gruppen aufgelöst. Persönliches Wollen und Bedürfnisse Einzelner spielten keinerlei Rolle mehr, „das Ganze, die Gemeinschaft“ war das wichtigste. Die KommunardInnen pendelten zwischen den Firmen und dem Gruppenhaus hin und her. Neben Arbeit, ein bisschen Sex und den abendlichen Selbstdarstellungen blieb bewusst gesteuert kein Freiraum mehr für persönliche Entfaltung, Nachdenken oder gar Kontakte zur Außenwelt. Aus Angst vor Fehltritten und Spitzelei war jedes persönliche Gespräch verstummt, gesprochen wurde hauptsächlich über die in der „Doku“ schriftlich niedergelegten Worte Mühl’s. Ein 1988 ausgestiegenes Mitglied: „Es besteht kein Kontakt mehr zwischen den Menschen, sondern der Kontakt geht nur noch über die Doku: Was hast du in der Doku gelesen? Was hast du dazu zu sagen?“ [S]

Da die Anwerbung neuer Mitglieder aufgegeben worden war, sollte der Mitgliederstand durch „Kinderproduktion“ auf natürlichem Wege gehalten werden. Otto Mühl glaubte, „dass wir einige Kinder haben, die wirklich neu sind, die gibt es außerhalb des Friedrichshofes gar nicht.“ [Mühl 1986]
Die Einsicht in den Schaden, den viele Kinder bei der „Erziehung des neuen Menschen“ erlitten, war Mühl durch seine gigantischen Ansprüche verstellt. Wer, wie Mühl, getrieben ist, unter allen Umständen eine „historische Persönlichkeit“ zu werden, und um jeden Preis aufzufallen, neigt weder dazu Kritik anzuhören, noch ist er bereit grundlegende Selbstkritik zu üben. Trotzdem war Otto Mühl keineswegs ein menschliches Ungeheuer. Wie fast jeder Mensch mochte Mühl einige Kinder mehr, einige Kinder weniger und einige Kinder gar nicht. So verhielt er sich zu einigen, wenigen Kindern tatsächlich wie ein Vater, mit Zuneigung und mit Strenge. Die meisten Kinder aber, erfuhren vor allem seine Strenge und oft auch seine cholerische Gewalt. Das Außergewöhnliche an der Friedrichshofer Erziehung war nicht der autoritäre Übervater Mühl, sondern das öffentliche Verbot von Beziehungen. Was den Kindern daher fehlte, waren glückliche Eltern, die stolz auf ihre Kleinen und zutiefst überzeugt waren, dass gerade ihr Kind süß, hübsch, intelligent sei und es mit Liebe verwöhnten. Dies wurde am Friedrichshof und in Gomera abgelehnt. Mühl war die oberste Instanz, seiner Kritik und seinen Launen hatte sich jeder zu beugen. Die Mütter waren verunsichert, jederzeit konnte ihnen das Kind wegen einer „schleimigen Zweierbeziehung“ weggenommen werden, die Väter spielten – wenn sie bekannt waren – kaum eine Rolle. Auch hier die Furcht, dass eine „Zweierbeziehung“ zum Kind oder gar zur Mutter festgestellt werden könnte. Die Kindermädchen und „Ersatzmütter“ wurden verschlissen, denn „Kontinuität war die Gruppe“. Das wirkliche Drama der Kinder war daher die tiefe Beziehungslosigkeit und Verunsicherung, in der sie zu leben gezwungen waren. Jede Liebe und Zuneigung musste heimlich ausgetauscht werden, konnte sie doch fürchterliche Folgen haben. Eine Zeitlang wurde nicht einmal davor zurückgeschreckt, wochenalte Säuglinge von den Müttern zu trennen. Ein weiterer Schock war für die pubertierenden Jungen und Mädchen ab 12, 13, 14 Jahren, daß kein sanfter, liebevoller, selbst bestimmter Einstieg in die Welt der Sexualität erfolgte, sondern dass „Mühl und seine Frau die Jugendlichen persönlich in die freie Sexualität einführten“. Die starke Gegenwehr – vor allem von einigen Mädchen – hätte Mühl dazu veranlassen müssen, auf deren Bedürfnisse einzugehen. Stattdessen versuchte er durch Druck, den Widerstand zu brechen. (Es ist heute auch für viele Ehemalige schwer erklärbar, wie es zu diesem Ende kommen konnte. Ein Grund ist, dass die schlimmsten Vergehen nur einem kleinen Kreis von 10-20 Personen bekannt waren. Ein ehemaliges Führungsmitglied bemerkte: „Wir, die wir anfänglich gegen die autoritäre Vatergesellschaft protestierten, endeten mit einem faschistoiden Erziehungsideal. Wir glaubten, daß wir eine revolutionäre Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit Gemeinschaftseigentum und freier Sexualität seien, tatsächlich war es ein Experiment mit Autorität und dem Prinzip ‚Gehorsam‘.“)

AUSSTIEG AUS EINER TOTALITÄREN GEMEINSCHAFT
Wer einmal dabei war, der blieb meist jahrelang. Etwa 150 KommunardInnen verließen zwischen 1984 und 1990 nach jahrelanger Mitgliedschaft den Kreis der Mühl’s. Der Prozess des Austritts zog sich meist über einige Jahre hin. Persönliche Krisen, Zweifel an der Person Mühl’s und dem durch ihn aufrechterhaltenen Systems führten immer wieder zu sogenannten „Auszugsgedanken“, die irgendwann nach besonders einschneidenden Erlebnissen im Auszug endeten. Diese „Schlüsselerlebnisse“ stimulierten tiefe Zweifel. Urplötzlich tauchte die Frage auf: „Was mache ich eigentlich noch hier?“ In mehr als 50% aller Fälle war der Auszug eine mehr oder weniger geplante Flucht, ein großer Teil türmte nachts. Wer seinen Auszug öffentlich ankündigte, den erwarteten Gespräche und Aktionsanalyse bei der Gruppenleiterin, sowie eine Fahrt zum Chef nach Gomera oder an den Friedrichshof. Dort folgten erneute Gespräche, Analysen oder ein öffentlicher Abschied beim Selbstdarstellungsabend. Nur wenige hatten das Selbstbewußtsein diesen Weg zu gehen, denn die Trennung nach jahrelangem Zusammenleben fiel niemandem leicht. Häufig waren Beziehungen entstanden, oft blieben Freunde, Verwandte und Kinder zurück. Mit dem Auszug brach jede Verbindung zu den Gruppenmitgliedern ab. Man/frau war ein „Ausgezogener“, ein „Verräter“, ein „Gruppenfeind“ etc. Ab 1985 konnte sich jeder „Ausgezogene“ einer ersten unproblematischen Hilfe, der vor ihm Ausgezogenen sicher sein. Vor allem wichtige soziale Kontakte waren so vorhanden. Durch diese Freundschaften war die Bearbeitung der gemeinsamen Vergangenheit wesentlich erleichtert, der ‚Kulturwechsel‘ erfolgte gleitend. Insgesamt verlief die Umstellung nach dem Ausstieg jedoch für die meisten unproblematisch. Die Suche nach alternativen Lebensformen ist heute beinahe jedem(r) vergangen. Die ehemaligen KommunardInnen leben allein oder zu zweit meist mit 1-2 Kind(ern) – in einer typischen Kleinfamilie.

1988-91: EIN AUSSICHTSLOSER VERSUCH? ELTERN UND EHEMALIGE GEGEN MÜHL
Drei Jahre lang hatte ich mich wenig mit meiner Vergangenheit beschäftigt. Natürlich gab es den Klatsch innerhalb einer wachsenden ‚Ehemaligen-Szene‘, wir waren uns meist einig in unserer Ablehnung der autoritären Strukturen und der ‚kultischen Verehrung‘ Otto Mühl’s. Am Jahresende 1987 verließ ein alter Freund (Hans-Ludwig) von mir, der die letzten zwei Jahre in der engsten Umgebung Mühl’s verbracht hatte, die Friedrichshofer Kommune. Mein eigener Sohn war vor kurzem geboren worden und die Schilderungen von Hans-Ludwig hinsichtlich der Behandlung der Kinder und Jugendlichen berührten mich auf eine andere Art als bisherige Erzählungen. Eher instinktiv getrieben von vielen mir selbst nicht immer klaren Motiven, begannen wir mit anderen ehemaligen Mitgliedern und Eltern von ‚Noch-Kommune‘-Mitgliedern erste Aktivitäten, um die Verhältnisse am Friedrichshof bzw. auf Gomera zu veröffentlichen. Der Weg an die Öffentlichkeit war mit vielen Schuldgefühlen, Hindernissen und Ängsten befrachtet: der ‚Verrat‘ an den Idealen und ehemaligen Freunden, die „Beschmutzung einer an sich guten Idee“, Angst vor Racheaktionen der KommunardInnen, die kalte Ablehnung durch ehemalige Mitglieder, die uns als Verräter sahen oder schlicht ihre neu begonnene Karriere nicht durch ihre Vergangenheit besudelt haben wollten. Die Gründe nichts zu tun, waren zahlreich. Erschwerend kam hinzu, daß trotz eindeutiger Zeitungsartikel in Österreich und Deutschland 1988 und 1989 die Verankerung der Friedrichshofer Kommune in der Österreichischen Polit-Szene (SPÖ) nicht angeknackst war. Ex-Kanzler Bruno Kreisky, Ex-Innenminister Blecha, Ex-Unterrichtsministerin Hawlicek, der Ex-Landeshauptmann (= Ministerpräsident) des Burgenlands Sipötz, der Wiener Bürgermeister Zilk und andere sozialistische Politiker stützten sie, es schien aussichtslos. Etliche, der wenigen ehemaligen Mitglieder, die aktiv geworden waren, gaben bis Ende 1988 wieder auf. Zum Glück hatten jedoch einige betroffene Mädchen den Absprung geschafft und unterstützten mit ihren Zeugenaussagen, die von mir im Mai 1988 erstattete Anzeige. Vor allem die Aussagen dieser Mädchen, ihr Mut und ihre Bereitschaft, über die sexuellen Übergriffe Mühl’s und damit auch über die eigene tiefe Verletzung ihrer Gefühle zu berichten, waren es, die aus den ‚Vorerhebungen‘ im Juni 1989 ‚Ermittlungen‘ der Staatsanwaltschaft im Burgenland werden ließen.

Erst als die Kriminalpolizei Eisenstadt mit dem dynamischen Inspektor Frühstück in Form mehrerer Hausdurchsuchungen am Friedrichshof eingeschaltet wurde, wuchs der Druck. Als Mühl in Spanien von den Justizbehörden vorgeladen wurde, geriet er in Panik. Fluchtartig verließ er Anfang Juni 1989 sein Kommuneparadies auf Gomera und kehrte ins Burgenland zurück, nachdem er vorher sicherstellen ließ, dass er dort nicht in Untersuchungshaft wandern würde. Lediglich seinen Reisepass musste er hinterlegen und wurde aufgefordert das Land nicht zu verlassen. Im Februar 1990 war die Situation für Mühl so erschwert, daß Hans-Ludwig und ich gebeten wurden, die ‚Kommune zu beraten‘. Zwei Wochen konnten wir uns nicht entschließen, diese ‚Wende‘ durchzuführen, doch es war die Zeit der ‚Wenden‘ in Osteuropa, wieso sollte der westlichste Ausläufer totalitärer Systeme dem Virus der Demokratisierung standhalten können: der Friedrichshof als letztes Opfer der Perestroika? Vier Monate lang waren Hans-Ludwig und ich, nachdem unsere Bedingungen erfüllt wurden, jedes zweite Wochenende am Friedrichshof oder in einer der Stadtkommunen und redeten, redeten und redeten; dann ging es überraschenderweise schlagartig: innerhalb von zwei Wochen beschlossen alle Gruppen sich nicht mehr durch ‚GruppenleiterInnen‘ beherrschen und verwalten zu lassen. Das Ende der Hierarchie war auch das Ende der Verklärung Mühl’s. Seit dem Sommer 1990 ist von ca. 350 Kommunemitgliedern lediglich ein harter Kern von etwa 20-30 Personen um Otto Mühl verblieben. Über 150 KommunardInnen sind ausgezogen, die restlichen (ehemaligen) KommunardInnen leben heute mit ihren Kindern, in Privateigentum und mehr oder weniger festen Zweierbeziehungen teilweise in wohngemeinschaftsähnlichen Verhältnissen. Die Züricher Kommune löste sich im Frühjahr 1991 auf, ähnliches ist auch in Berlin, München bzw. Düsseldorf zu erwarten und lediglich durch die derzeit herrschende Wohnraumknappheit in Deutschland erschwert. Glücklicherweise fand der von uns befürchtete schnelle Zusammenbruch der Gemeinschaft nicht statt, so blieb genug Zeit, um die Vaterschaften und Familienverhältnisse wenigstens teilweise zu klären und soziale Härten für die große Zahl alleinerziehender Mütter und ihre Kinder möglichst zu lindern. Am 17. Juni 1991 wurde Otto Mühl u.a. wegen „sexuellen Mißbrauchs Jugendlicher“ und „Notzucht“ verhaftet. Das Ende der Kommune, das Ende unserer Ideale, das notwendige Ende eines totalitären Systems.

DER PROZESS
Das Gerichtsverfahren gegen Otto Mühl – ein Schöffengericht unter dem Vorsitz von Richterin Jelinek – begann am 13. November 1991 in Eisenstadt (Burgenland). Nach fast vier Jahren öffentlicher Lüge, Verhöhnung der Opfer und Verleumdung der ihn anzeigenden Ex-KommunardInnen: „Sie waren doch alle über 14 … In unserer Gemeinschaft wurde niemand zu irgendetwas gezwungen, gepresst oder genötigt. Am allerwenigsten zum Beischlaf mit dem Chef. Zum Nötigen hat mir glatt die Zeit gefehlt bei all den Freiwilligen“ [Krone 4.11.90] gab Mühl bereits vor Prozessbeginn die meisten seiner Vergehen zu. (Noch in der Anklageschrift vom 31.5.91 hatte es geheißen: „Der Beschuldigte Mühl gibt an, mit einer Vielzahl von Frauen der Kommune nach Vollendung ihres 14. Lebensjahres geschlechtliche Beziehungen unterhalten zu haben. Ihm sei jedoch keine derartige Führungsposition zugekommen und es habe ein Autoritätsverhältnis zu den Jugendlichen im Sinne des § 212 StGB nicht bestanden.“ [AS]) Sogar den Missbrauch von Unmündigen (unter 14 Jahren) gestand Mühl nun. Lediglich die Anwendung physischer wie psychischer Gewalt leugnete er. Leicht gebeugt, fast untertänig präsentierte sich Otto Mühl in seinem taubengrauen Anzug mit dezent gestreifter Krawatte dem Gericht. Dem Blitzlichtgewitter der zahlreichen Photographen stellte er sich ohne spürbare Erregung. Devot und höflich-unbeteiligt antwortete er dem Gericht, wenn er gefragt wurde. Kaum vorstellbar, daß dieser unscheinbare ältere Herr charismatischer Führer oder gar totalitärer Herrscher einiger hundert Erwachsener gewesen sein soll. Mühl, auch jetzt noch Meister der Verstellung. Ein Mann der Gegenwart mit der Fähigkeit des Vergessens. Der zweite Tag des Prozesses war der Tag der Opfer. Die Presse und andere Zuhörer waren des Saales verwiesen und sahen lediglich wie die Mädchen „verängstigt den Gerichtssaal betraten und ihn heulend wieder verließen“ [Standard 15.11.91]. Auch Mühl musste – auf Wunsch der Zeuginnen – die meiste Zeit außerhalb des Gerichtssaales verbringen. Auf den Gängen und im Zeugenzimmer waren die Mädchen einem subtilen, psychischen Druck ausgesetzt. Mühltreue KommunardInnen schrieben ihre Unterhaltungen mit und gaben die Notizen an den Anwalt Mühl’s (E. Wegrostek) weiter, versuchten einzelne in Gesprächen zu beeinflußen etc. Nach mehreren Verwarnungen sah sich Richterin Jelinek zum Schutz der Zeuginnen gezwungen, vier Gendarmen auf den Gängen zu verteilen. (Nicht umsonst lautete das Fazit von Inspektor Frühstück in der Sachverhaltsanzeige des Landesgendarmeriekommando vom 23.1.90: „Aus den Befragungen der ehemaligen Mitglieder und auch bei den Befragungen der Noch-Mitglieder gewinnt man den Eindruck, daß sie unter starkem psychischen Druck stehen und vor irgendjemand Angst haben.“) Nach den bewegenden Schilderungen der sieben, von Mühl missbrauchten Mädchen folgte – unter Ausschluss der Öffentlichkeit – die Video-Vorführung eines Zusammenschnittes verschiedener Selbstdarstellungsabende am Friedrichshof. Neben Gewalttätigkeiten Otto Mühl’s war mehrfach seine Frau Claudia zu sehen, wie sie minderjährige Buben vor einem enthusiastischen Publikum zum Oralverkehr nötigte. „Ich habe die Filme gesehen, sie übertreffen alles Bisherige“, sagte die Richterin anschließend. „Die Buben wollten das nicht, sie haben geweint. Die sind für ihr Leben geschockt. Es war ihr Bub, ihr eigener Bub und seine Stiefmutter!“ (Einer der Jungen ist der Sohn von Otto Mühl und Claudia’s Schwester.) Staatswanwalt Rabong meinte, noch unter dem Eindruck der Zeugenaussagen und Videovorführung stehend, in seinem Plädoyer: „Ich habe schon viele große Prozesse erlebt, aber noch in keinem hat mich das Schicksal der Opfer so bedrückt wie in diesem. Mühl hat Terror ausgeübt. Was ein KZ ist, wissen wir aus der Geschichte. Was die Mädchen am Friedrichshof mitmachen mussten, war genauso schrecklich. Otto Mühl hat mit Menschen experimentiert, er hat sie manipuliert. Er war als Künstler so sensibel, daß er zu wissen glaubte, wenn ein Mädchen ’nein‘ sagte, es tatsächlich ‚ja‘ meinen müsse. Die Jugendlichen waren nicht freiwillig dort, er hatte ihnen die Eltern genommen und damit die Möglichkeit die Kommune zu verlassen. Sie hatten keine Chance.“ Rabong forderte das Gericht auf, die mögliche Höchststrafe von 10 Jahren auszuschöpfen. Rechtsanwalt Steinbauer, der Vertreter einer Zeugin hob sehr sachkundig in seinem Plädoyer die subtile Methodik der psychischen Gewalt hervor. Sein Resümee: „Was wir hörten und sahen, war nur die Spitze des Eisberges“. Tatsächlich waren die 2 Tage nur ein kleines Fenster in die Vergangenheit. Ein dumpfer Schatten Kommuneleben der letzten Jahre zog in Form von Erinnerungs- und Gefühlsfetzen durch den nüchtern eingerichteten Gerichtssaal. Es war schwer, nicht betroffen zu sein, Mühl gelang dies. Kaum eine menschliche Regung während der zwei Tage, ganz offensichtlich sah er sich zu Unrecht dorthin gesetzt. Sicher, er habe mit den minderjährigen Mädchen geschlafen, aber sie hätten dies freiwillig getan, ja er habe sich kaum vor den Gelüsten der Teenager retten könne. Er als Künstler sei so sensibel, dass er merke, wenn jemand nicht wolle. Haben die Prozesstage eines gezeigt, dann ist es die tiefe Gefühl- und Beziehungslosigkeit Mühl’s. Mitgefühl, Einfühlungsvermögen oder gar Mitleid sind ihm anscheinend fremd. Erst die weitgehende Nicht-Existenz solcher Gefühle ermöglichte ein System psychischen Terrors, wie es in der Kommune jahrelang bestand. Die tiefe geistige Isolation der KommunardInnen bei engster körperlicher Nähe war besonders für die heranwachsenden Kinder grausam. Eine Erfahrung der Welt außerhalb des Friedrichshof-Mauern (bzw. Gomera) war verboten, die Handlungsalternative des Auszugs bestand für sie nicht. Sie waren schutzlos und dadurch in einem permanenten Zustand psychischer Destabilität. Körperliche Gewalt reichte als gelegentliche Drohung, die gegenseitige Kontrolle und Bespitzelung war genug. Die fehlende Solidarität und die unterentwickelte Fähigkeit des Mitfühlens von Seiten der erwachsenen KommunardInnen sind eine schwere Schuld. Immer wieder sah ich während des Prozesses nicht nur Otto Mühl und Bernd Stein vor ihren RichterInnen, sondern auch mich und hunderte anderer Erwachsener, die wir einerseits Opfer und andererseits Mittäter an den Kindern geworden sind. Mittäter durch unsere selbstbezogene Unfähigkeit, die Notlage anderer sehen zu wollen und zu können. Vielleicht war es gerade diese späte gegenseitige Bezeugung von Sympathie, Mitgefühl und Solidarität der erschienenen ZeugInnen, die ein wenig das erlittene Unrecht heilen kann. Nach Jahren der tief vergrabenen Verletzungen endlich gegenüber höheren RichterInnen den absolut herrschenden Mühl zu konfrontieren; verschüttete Schmerzen zuzugeben und eine Antwort zu fordern. Die tiefe Bewegung, und der Wahrheitswille der ZeugInnen prallte von einem selbstgerechten, sich nur formal schuldig fühlenden Mühl ab. Nach all den Jahren der Nicht-Ethik, der Nicht-Wahrheit, der Nicht-Gerechtigkeit, den Jahren der totalen „künstlerischen und spielerischen Freiheit“ eines Menschen war die Erfahrung von abstrakt gesetzten, gesellschaftlich-traditionellen Werten eine grundlegende Erfahrung. Mag das Urteil von 7 Jahren Haft für einen Außenstehenden unverständlich ja allzu streng erscheinen, so sei gesagt: Das, was Mühl vor Gericht erfahren hat und noch in seiner Haft erfahren wird, war menschlicher als das, was er selbst all die Jahre anrichtete. Verglichen mit der Summe der Jahre, welche die Bewältigung der Mühl’schen Psychoterrorherrschaft die Kinder und Jugendlichen kostet und kosten wird, sind diese 7 Jahre eine milde Strafe. Für einen, in seiner Kritik ins Destruktive neigenden ehemaligen Linken wie mich, war es eine bleibende Lektion in Demokratie. Der Wille zur Kritik und zum Zweifel an gegenwärtigen Missständen ist ohne das Vertrauen in die bestehenden demokratischen Errungenschaften ohne Basis. Die Erfahrung, nach fast 4 Jahren des Bemühens um Aufklärung, die öffentliche Fassade des Psycho-Terror-Systems Friedrichshof zerstört zu haben, hat meine kritische Wahrnehmung mit einem konstruktiven Bemühen verbunden. Diejenigen Kunstszene-Sympathisanten Mühl’s (C.L. Attersee, J.C. Ammann, J. Hoet, U. Krinzinger, H. Nietsch, O. Oberhuber, K. Oberhuber, H. Szeemann u.a.), die vor dem Prozeß mit einer gemeinsam unterschriebenen Erklärung an die „mediale Fairneß“ der Presse appellierten und die nach dem Prozeß feuchte Augen angesichts der ‚Härte‘ des Staates gegenüber Mühl und seinen verantwortlichen Frauen hatten, seien gefragt, wo ihr Mitgefühl in den Jahren zuvor war, als diese Personen wichtige emotionale Grundlagen der Kommunekinder durch Dummheit und Selbstsucht zerstörten und wann ihr Appell an Mühl erfolgte, nachdem seit 1988 die Mißstände veröffentlicht waren. Glaubten sie etwa Mühl’s Worten? „Ein Künstler lebt freier und setzt sich andere Maßstäbe als der Rest der Menschheit. Der Künstler als Mensch ist frei und nicht mit herkömmlichen Maßstäben zu messen. Ich habe niemandem Schaden zugefügt.“ [Basta 9/91] Hermann Nietsch verglich Mühl sogar mit Egon Schiele und meinte: „Erotik war dort (am Friedrichshof) ein Spiel, das war eine Großfamilie, in der es Streitigkeiten gab. In die sollte sich der Staat nicht einmischen. Hüten wir uns vor einer sich verselbständigen Justiz.“ [Basta 9/91]. Vielleicht sollten wir uns ebenso vor der Weltfremdheit von einigen Künstlern und Kunstmanagern hüten, die da meinen: „Am Friedrichshof sind alternative Lebensformen zwei Jahrzehnte lang gelebt worden, von dort sind wichtige Impulse für die österreichische und internationale Kunst ausgegangen.“ (Dann geht wohl Bhagwan als großer Sammler von Rolls-Royce und Edel-Kleidern in die Geschichte ein.) Nur Günter und Anni verweigerten sich ihren Künstlerkollegen, aus gutem Grund, sie waren mehrmals einige Tage am Friedrichshof bzw. in Gomera und hatten hinter die Fassaden geblickt. Sie schreiben: „Die Kunst ist frei oder sollte frei sein. Der Künstler aber hat als Mensch die gleiche moralische und soziale Verpflichtung und ist mit gleichen Maßstäben zu messen wie jeder andere Mensch.“ [Profil 91/46, S.86]

Zu meiner Person:
17jährig war ich 1976 Gründungsmitglied der Münchner Kommune, Ende 1984 verließ ich diese wieder. Vom Jahreswechsel 1987/88 bis zum Jahreswechsel 1990/91 trug ich nicht unwesentlich dazu bei, daß das „Jahrtausendexperiment“ Otto Mühl’s endgültig beendet wurde. Im Februar/März 1992 erscheint im Verlag für Gesellschaftskritik (Wien) ein Buch über die Kommune. Titel: „Die Diktatur der freien Sexualität.“