Tatsachenbericht – Melanies Bericht

01.04.88 Kinderpalaver*

Da mein Sohn Boris* (mein Kind war gerade 17 Monate alt!) an diesem Tag beim Palaver auf meinem Schoß sitzen wollte und nicht auf der Bank mit den anderen Kindern, wurde er von Eva bei Mühl gemeldet, worauf Boris in die Mitte geholt wurde. Mühl packte Boris am Ohr und führte ihn unter weinendem Protest in der Mitte herum, wobei er ihm alle drei Schritte einen Tritt in den Po verpasste. Nach einigen Runden schrie er immer lauter und ich wurde hinausgeschickt. Ich konnte durch die halb geöffnete Tür sehen, wie Boris zu den oberen Frauen gesetzt wurde, wo er sehr verzweifelt weinte. Nach kurzer Zeit versuchte er weg zu krabbeln, wurde aber festgehalten . Ich hörte ihn „nein, nein, nein!“ schreien. Daraufhin sagte Mühl: „Der ist ja immer noch nicht fertig, der hat ja immer noch nicht genug!“ und holte ihn wieder in die Mitte.

Dann wurde ich wieder hineingeholt und Mühl machte mit Boris Aktionsanalyse, drückte ihm auf Bauch und Brust. Boris schrie. Dann legte sich Mühl auf ihn und drückte ihn zu Boden, bis er sich nicht mehr wehrte. Danach musste sich mein Kind weit von mir auf eine Bank setzen, wo er immer wieder anfing zu schluchzen. Er wurde von Mühl als „angefressener Rechtsanwalt“ (!) beschimpft und von allen ausgelacht. Boris durfte erst wieder nach dem Kindertanzen zu mir. Am nächsten Tag fand das Kinderpalaver im Freien statt. Draussen unter der starken Mittagssonne bekam Boris Durst und wollte an meiner Brust trinken (ich stillte noch). Das war aber beim Palaver nicht erlaubt. Also wurde er gemeldet, weil er jammerte. Ich musste ihn zu Mühl bringen. Boris fing an zu weinen, Mühl hielt ihm seine Brust hin und sagte: „Hier ist das Duttel (die Brust), na komm schon, willst du mein Duttel nicht?“ Als Boris wegkrabbeln wollte, zog er ihn am Bein zurück. Er ließ ihn mehrmals ein größeres Stück wegkrabbeln und riss ihn dann jedes mal stärker am Bein zurück, bis mein Kind laut nach mir schrie. Ich wurde weggeschickt und musste mich verstecken. Boris durfte bis zum Abend nicht zu mir und wurde gleich in eine Kindergruppe eingeteilt.Später hörte ich, dass er noch mehrere Stunden lang geschrien haben soll.

Nach dem Palaver sprachen mich einige Mütter an und machten Bemerkungen wie: „Du kannst aber froh sein, dass Otto sich so um deinen Sohn kümmert. Je früher sein schlechter Charakter angegangen wird, umso besser“. Ich hatte solche Angst, dass man mir mein Kind wegnehmen würde, dass ich mit keinem Menschen darüber sprach. Am Tag darauf traf ich Mühl mit seiner Crew beim Spaziergang, ich hatte Boris auf dem Arm. Er nahm ihn mir weg, schaute ihn an und sagte: „Du hast ja einen derartig größenwahnsinnigen Blick, den werde ich dir schon noch austreiben“. Ich war wie versteinert und sah keinen Ausweg mehr. Ich empfand mich als vollkommene Versagerin, weil ich meinem Kind nicht beigestanden habe. Ich fühlte mich lange Zeit derart erbärmlich und auch heute noch habe ich Schwierigkeiten, mich mit diesem Thema zu befassen.

(Melanie*, Februar 2003)

 „Kinderpalaver“

In der Kindererziehung, die ursprünglich das Ziel hatte, die freie Entfaltung der Kinder zu fördern, ging es in der Endphase der Kommune nur noch um Gehorsam und Unterordnung, die mit Bestrafungen durchgesetzt wurden. Wie in allen Bereichen der Kommune, spielte in den letzten Jahren der Kommune auch bei den Kindern, bereits ab dem ersten Lebensjahr, die Hierarchie eine große Rolle. Das jeweils erste Kind bestimmte, was gespielt wurde. Als Instrument der Disziplinierung wurde das „Kinderpalaver“ eingesetzt, bei dem alle Kinder, Pädagogen und viele sonstige Erwachsene versammelt waren. Nicht selten nutzte Otto Mühl ein solches Palaver, um Kinder schwer zu demütigen. Dabei wurde jeweils ein einzelnes Kind in die „Mitte“ der im Kreis versammelten Gruppenmitglieder gerufen und so öffentlich über jedes Kind gesprochen, oft in sehr verletzender Art, indem ein Kind z.B. angebrüllt, in der Hierarchie der Kinder heruntergesetzt, in Extremfällen auch mit kaltem Wasser überschüttet wurde, oder manchmal auch die anderen Kinder aufgefordert wurden, dieses Kind zu schlagen. Dieses Schlagen, das scheinbar wie ein Spiel inszeniert wurde und aus leichten Schlägen auf den Rücken bestand, konnte bei der Vielzahl dieser Schläge sehr schmerzhaft sein und auch blaue Flecken noch am nächsten Tag hinterlassen. Ein „Vergehen“ eines Kindes, das auf diese Weise bestraft wurde, war z.B., wenn ein Kind sich weigerte, in der „Mitte“ vor versammelter Gruppe vorzutanzen.

* Namen geändert