Auszüge aus einem Interview mit Nena Baumann.* und Silke Vogt.* über ihren Lebenszeitraum vom 4. – 16 . Lebensjahr in der Mühlkommune, geführt von Jürgen Kremb (SPIEGEL) und Kathrin Pitterling (ARD, Kulturreport), am 17.01.2004

 

Weshalb möchtet ihr dieses Interview machen?

Nena: Was mir am Herzen liegt, ist, dass ich damit vielleicht in irgend einer Form, auf längere Sicht, den Kindern, die jetzt noch in Portugal mit Otto Mühl leben, helfen kann. Oder zumindest die Message rüberbringe: „He, ich bin froh, draußen zu sein, und es ist nicht okay, wie der Otto ist“. Dann ist es gut. Und das Zweite ist, dass ich mich sehr oft verletzt gefühlt habe, immer wieder, dass der Otto in der österreichischen Kunstszene so wahnsinnig gefeiert und hofiert wird. Dass es immer wieder damit abgetan wird, dass es ja nur Teenies waren, so irgendwelche Jugendliche, an denen er Verbrechen begangen hat. Er aber sei ein toller Künstler, und was er im Alltag tut, interessiert die Leute nicht. Die Menschen, die den Otto unterstützen, denen muss klar sein, dass er ein Mann ist, der mindestens 100 Kinder misshandelt hat. Blutig geschlagen, sexuell missbraucht, Kinder gefesselt etc. etc. – und das über Jahre. Das sollen auch die Otto-Fans, Nitsch, Attersee oder Noever usw. wissen. Ich möchte gerne einmal den Nitsch fragen: „Nitsch, wie kannst du das mit deinem Gewissen vereinbaren, einen Menschen zu unterstützen, der so viele Kinder missbraucht hat?«

… Beim Prozess 1991 ist vieles nur teilweise herausgekommen, was wir nicht erzählen konnten oder durften, das war u. a. der frühkindliche Missbrauch.

… Ich war schon über 20 Jahre alt, als ich zum ersten Mal realisierte, dass ich auch schon vor 13 Jahren missbraucht wurde. Bis dahin hatte ich das weggesteckt und mir selbst gesagt, ich bin nicht missbraucht – obwohl ich sehr viele bildliche Erinnerungen daran habe. Scheiße, was hat er mit mir gemacht, kam es mir immer wieder hoch, aber dann habe ich es immer wieder gleich weggesteckt. Ich habe ganz konkrete Erinnerungen an Übergriffe vom Otto. Damals war ich erst 4-5 Jahre alt, vielleicht war ich auch noch jünger. Ich wusste schon, als ich klein war, dass es verboten ist, was der Otto mit mir macht … und dass ich mit Niemandem darüber reden darf. Und später hat Otto mir gesagt, dass wir Kinder untereinander darüber nicht reden dürfen. Und ich wusste auch, dass er es der Masse, den Leuten gegenüber, verheimlicht. Er hat regelmäßig jede Gelegenheit genutzt, mich zu missbrauchen. Nachts, aber auch tagsüber. Wenn viele Leute in seinem Atelier waren und sie sich verabschiedeten, musste ich immer bleiben. Dadurch wusste ich schon von klein auf, dass er nicht wollte, das alle es wissen. Es hieß immer, mein Verabschieden findet erst dann statt, wenn die Masse der Menschen weg ist. Ich habe unbewusst wahrgenommen, dass er schon Angst hat, das es die Anderen erfahren. Weil er wusste, dass er das den Leuten nicht zumuten kann. Außer seiner ersten Riege – die waren häufig, während er sich an mir vergriff, im Zimmer anwesend.

Er sieht kleine Kinder immer sexuell. Das wird er immer, und das ist auch der Punkt, über den ich mich geärgert habe. Da kriegt einer 7 Jahre Gefängnis, und wie können sie glauben, dass er irgendwie dadurch gesünder wird! Man kann ja keine schwer pädophilen Leute für ein paar Jahre ins Gefängnis geben und danach wieder zu Kindern stecken. Nach dem Motto: Er hat jetzt seine Strafe abgesessen, und nun brauchen wir nicht mehr hinzuschauen. Und jetzt hat er wieder die gleiche Macht über viele Kinder in Portugal. Dass das noch mal passieren kann, das er mit Kindern ist!?

Silke:

Als damals abzusehen war, dass es zum Prozess kommen würde, da hat Otto Angst bekommen. Dann hat der die Finger von uns Mädchen gelassen und hat dann aber eine Liste erstellt, welche erwachsenen Männer (ich war da knapp 14 Jahre oder noch nicht einmal, ich weiß es nicht), mit uns schlafen sollten. Davor hatte es Listen gegeben, dass wir mit den Gleichaltrigen, auch Geschwistern und Halbgeschwistern, schlafen mussten. Die Liste wurde von einer erwachsenen Frau geführt und die hat uns alle eingeteilt. Sie hat Einfluss darauf genommen, mit wem man schlafen musste.

Nena:

Wir durften uns nicht verlieben, nicht einmal in die Gleichaltrigen. Aber wie soll ich mich denn mit 13 Jahren in ein Monster von 64 Jahren verlieben? Das habe ich persönlich auch nicht gepackt. Das war alles ein Horror.

Nena:

Er (Otto Mühl) war so eifersüchtig, dass er den Ausspruch gemacht hat, wortwörtlich: »Wenn ihr einem Gleichaltrigen (also unseren Brüdern, unseren Spielgenossen) begegnet, dann Kopf runter und spurten, schnell.« Und wenn man zufällig im gleichen Reitstall beim Sattelzurückbringen einem Jungen begegnete, konnte das schwere Bestrafungen nach sich ziehen. Wir durften mit denen gar nicht mehr reden und wurden auch wohnmäßig von den Jungen getrennt.

… Der Otto Mühl hat nicht nur uns Mädchen während der Kommunezeit misshandelt, sondern auch die Jungen wurden missbraucht, geschlagen, gedemütigt. Und einschätzen, was gravierendere Folgen hatte, sollte und kann man auch nicht. Es war für uns alle Missbrauch an unseren Körpern und Seelen. Es gibt kein Kind, das nicht mit Verletzungen aus der Kommune herausgegangen ist. Er kann keinem Kind was Gutes geben. Egal, ob es jüngere oder ältere Mädchen sind oder jüngere oder ältere Jungen. Und dass dieser Sachverhalt so selbstverständlich hingenommen wird, gesellschaftlich!?

… Wir waren wie Heimkinder, Tag und Nacht immer zusammen. Wir hatten keinen Elternbezug, keine Familie gehabt. Das hat uns Kinder zusammengeschweißt. Damals wurden die Kinder teilweise schon mit 3 Wochen ihren Müttern weggenommen. Der Otto wollte diese engen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern nicht. Es gab keine Person, die sich um dich als Kind persönlich gekümmert hat. Wenn du gestraft wurdest, da fragte keiner, wie es dir geht, oder ob du krank davon wirst. Oder z. B. das Kinderpalaver, was täglich stattfand, wo man in der Öffentlichkeit gedemütigt oder gestraft wurde, da fragte keiner, wie du damit fertig wurdest. Das Palaver war ein Treffen nach der Schule, wo der Otto über die Kinder gerichtet hat. Das war immer total nach Laune. Wir hatten eigentlich immer Angst gehabt. Wir fragten uns immer, hat er heute gut oder schlechte Laune, oder war »strenge Welle« oder war er milde? Seine Erziehungsmethoden sind willkürlich gewesen. Zeitweise hat der Otto einen gestraft, wenn einem in der Schule der Bleistift heruntergefallen ist, zufällig. Oder wenn man mehr als 10 Minuten geduscht hatte. Alles war willkürlich. Strafen waren zum Beispiel: mit nackten Händen Blätter aus dem zufrierenden See im Winter klauben, oder Hagebutten pflücken. Ich habe jeden Tag von Mühl Strafarbeiten bekommen. Es wurden Kinder vor 100 Leuten in die Mitte (beim Palaver) zitiert, dort erniedrigt, beschimpft, das ist ja auch nicht lustig!

… Es wurden ja auch Filme in der Kommune gedreht. Da wurde eine Zwangsjacke für eine Filmszene mitgebracht. Da hat er plötzlich die Idee gehabt: »Setzen wir sie in der Schule ein«. Ich wurde im Alter von 10 Jahren in die Zwangsjacke gesteckt (hauptsächlich nur ich und ein anderes Mädchen), dann mit den Füßen an einem Stuhl gefesselt. Und da ich dann geschrien und gespuckt habe und um mein Überleben geschrien habe, da haben sie mich noch geknebelt. Nach einiger Zeit hat der Otto dann bestimmt, dass die Zwangsjacke doch nicht mehr in der Schule eingesetzt werden sollte.

… Otto hat mache Kinder gar nicht gemocht, die kamen dann besonders dran. Z. B . hat er einen Jungen blau geschlagen, und der wurde dann noch vom Otto beschimpft, dass er jetzt extra bluten würde. Wie kann man denn extra bluten?! Wir sind gefesselt worden, geschlagen, vor 100 Leuten in der Mitte heruntergemacht worden. Oder ich sollte vor allen Leuten in der Mitte tanzen, wollte das aber nicht, dann hat der Otto die Idee gehabt vielleicht schlagen, und hat mich vor allen Leuten geschlagen, und noch mal schlagen, aber ich habe nicht getanzt.

Sike:

Oder ein Kind wurde öffentlich mit einem Eimer Wasser überschüttet.

Nena:

Ein 3-jähriger Junge hatte Angst vor Stinkwanzen, als Otto davon hörte, hat er dem Jungen unter Zwang eine Stinkwanze in den Mund gedrückt, ihn hat er extrem gequält. Oder er hat einem Kind Valium verabreicht – man kann doch nicht ein 8-jähriges Kind fesseln und ihm Valium verabreichen! Denn immer wieder hatten so viele Kinder die Nerven verloren. Durchdrehen war ein geläufiges Wort. Jeden Tag haben mehrere Kinder durchgedreht. Es gibt kein einziges Kind von damals, dass keinen Horror erlebt hat. Und das ist eine Aussage für sich!

… Das Kranke an Otto ist, dass er sehr schlau war. Er hat unsere ganze Kindheit über Witze vor den Erwachsenen über seine Pädophilie gemacht, aber das hat er real täglich gemacht, und die Masse hat über seine Witze gelacht und geglaubt, es ist nur ein Witz. Er war sehr schlau. Damit hat der Otto zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Erstens dadurch, dass er so die Toleranzschwelle bei den Erwachsenen erweitert hat und zweites war die Message an uns Kinder: »Hier hilft dir niemand.« Ich habe geglaubt, jeder muss es doch wissen, dass wir kleinen Mädchen sexuell misshandelt werden! Es hat auch jeder wissen können, so geheim waren die Übergriffe nicht.

… Der Otto ist schwer pädophil und das ist nicht o.k., dass heute noch Kinder um ihn herum sind. Er kommt raus aus dem Gefängnis, bekommt seine Ausstellung, und er kann einfach wieder mit den Kindern weitermachen………. !!

* Namen geändert